Londoner Nachtleben in der Krise

| Tourismus Tourismus

 «Swinging London»: Wer an die pulsierende Metropole an der Themse denkt, meint oft bunte Lichter und Trubel bis zum Morgen. Soho und Covent Garden gelten als Traumorte vieler Touristen auf der Suche nach Partys, als Hotspots der Nacht. Doch die Realität sieht anders aus: Wenn Besucher abends aus einem der vielen Theater strömen und einen Mitternachtsimbiss suchen, wer von einem Empfang kommt und noch auf einen Absacker hofft, wird häufig enttäuscht. Ein offenes Pub in der Londoner City? Um die Uhrzeit kaum zu finden. 

«Wann haben Sie das letzte Mal eine richtige Nacht in London durchgemacht?», fragte die Hauptstadtzeitung «Evening Standard» vor wenigen Wochen verzweifelt ihre Leser, und die «Daily Mail» sieht schon «die Vernichtung der Londoner Partyszene» gekommen. Regelmäßig zitieren britische Medien entgeisterte Touristen, die ausgerechnet in der Glitzermetropole London um 22 Uhr aus dem Pub geworfen wurden und kein offenes Lokal mehr fanden. «Londons Nachtleben in der Krise», überschrieb die neoliberale Denkfabrik Adam Smith Institute (ASI) jüngst einen Bericht über die Branche.

Betriebskosten explodieren

Gründe gibt es viele. Die Betriebskosten vor allem für Löhne, Energie und Rohstoffe sind um 30 bis 40 Prozent in die Höhe geschossen, dabei kommen weniger Kunden. Wie die Immobilienanalysten Placemake.io und Visitor Insights ermittelten, sank 2022, nachdem die Corona-Beschränkungen aufgehoben waren, die Kundenfrequenz in der City im Vergleich zum Vor-Pandemie-Jahr 2019 um 55 Prozent.

Der Branchenverband Night Time Industries Association (NTIA) schätzt, dass seit März 2020 mehr als 3000 Einrichtungen wie Bars und Clubs in der britischen Hauptstadt dichtgemacht haben. Dass Londons «Night Czar» Amy Lamé, so etwas wie die offizielle Nachtleben-Beauftragte, die Stadt regelmäßig als Vorreiterin der 24-Stunden-Wirtschaft lobt, die nie schlafe, sorgt für Kopfschütteln bei Liberalen und Konservativen gleichermaßen.

Auch landesweit sind die Zahlen ernüchternd. Gab es vor 20 Jahren noch mehr als 3000 Discos im Vereinigten Königreich sind es nun nur noch etwa 850, wie die «Times» unter Berufung auf die Beratungsfirma CGA berichtete. 

Fast noch krasser sieht es bei den Veranstaltungsorten mit Live-Musik aus: Im vergangenen Jahr schlossen 125 von ihnen, ungefähr jede sechste Location, hat die Organisation The Music Venue Trust berechnet. Die Rekom-Gruppe, die sich als größtes Nightlife-Unternehmen Nordeuropas bezeichnet, machte in diesem Jahr bereits Filialen ihrer Disco-Kette Przym in Birmingham, Leeds, Nottingham, Portsmouth, Plymouth und Watford dicht.

Das Homeoffice macht Beschäftigte zu «TWaTs»

Doch kaum eine Stadt ist so stark betroffen wie London. In der Hauptstadt gibt es nun 16 Prozent weniger Veranstaltungsorte, in Liverpool betrug der Rückgang 3 Prozent. Ein Grund: der Anstieg der Homeoffice-Nutzer, wie Graeme Smith vom Beratungsunternehmen AlixPartners der «Times» sagte.

Viele Menschen mit Bürojobs gehen nur noch am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag in die Stadt. Zwar sind an Donnerstagen die Pubs im Regierungsbezirk Westminster brechend voll. Doch die Unternehmen haben deutlich weniger Zeit, Geld zu verdienen. Das Phänomen hat sogar eine eigene Bezeichnung: «TWaTs» - Tuesdays, Wednesdays and Thursdays. Typisch britischer Humor, sagen wohl viele, denn «twat» ist eigentlich ein Schimpfwort. Es bedeutet so etwas wie Vollidiot, nur vulgärer.

Wenn man dann noch wie in den meisten Gegenden von London mehr als 7 Pfund (etwa 8,15 Euro) für ein Pint Bier (0,568 Liter) zahlen muss, überlegen sich viele, ein zweites Glas zu bestellen und länger zu bleiben. Auch ein unzureichender Nachtfahrplan wird immer wieder kritisiert. Hinzu kommen hohe Immobilienpreise - und damit hohe Mieten, die den Druck auf Pub- und Club-Besitzer erhöhen, vor allem wenn die Kunden ausbleiben, wie AlixPartners-Experte Smith erklärt. Mit dem Brexit fehlen zudem Fachkräfte in der Gastronomie: Bis zum EU-Austritt standen viele junge Menschen aus Italien, Spanien oder Portugal hinter den Tresen. Nun fehlen sie, wegen teurer Visa lohnt sich der Aufenthalt nicht mehr.

Sieben Pfund für ein Pint Bier

Die steigenden Lebenshaltungskosten, die «cost of living crisis», haben weite Teile der Gesellschaft im Griff, auch wenn der Anstieg der Verbraucherpreise zuletzt zurückging. Studierende, eine wichtige Gruppe für das Nachtleben, würden später ausgehen und weniger trinken, sagte Rekom-Chef Peter Marks der BBC. Das belegen Untersuchungen der National Union of Students (NUS), ein Zusammenschluss der britischen Studentenvereinigungen. Und die Studentinnen und Studenten arbeiten mehr, um über die Runden zu kommen. «Das bedeutet, dass viele zwischen Vollzeitstudium und Teilzeitjob gar nicht mehr unter die Leute kommen», sagte NUS-Vertreterin Chloe Field.

Die lahmende Lust am Nightlife hat Folgen für die städtischen Finanzen. Auf 46 Milliarden Pfund schätzt das Adam Smith Institute den Beitrag des Londoner Nachtlebens zur Wirtschaft. Transport, Security, Imbissläden - viele Branchen profitieren.

Was könnte helfen?

Der Thinktank fordert Regierung und Stadtverwaltung gleichermaßen zu Reformen auf. Bier- und Mehrwertsteuer müssten ebenso gekürzt werden wie Vorschriften für Clubs, Pubs und Discos. Um die Branche nach der Pandemie wiederzubeleben, durften Restaurants ihre Tische auf die Bürgersteige stellen, der Ansturm war groß. Das ist nun wieder weitgehend verboten.

Schließlich müsse das Verkehrsangebot in der Nacht ausgebaut und eine größere Polizeipräsenz rund um die Transportinfrastruktur geschaffen werden, hieß es vom ASI weiter. «Indem wir unnötige Bürokratie abbauen, um die Vetokratie zu überwinden, diese großartige Stadt nachts sicherer machen und die belastenden Kosten im gesamten Gastgewerbe senken, können wir Londons Ruf als echte 24-Stunden-Stadt wiederherstellen.» (dpa)


Zurück

Vielleicht auch interessant

Weil der US-Fahrdienstleister beim Transfer personenbezogener Daten gegen europäische Datenregeln verstoßen haben soll, verhängt die zuständige Behörde eine Millionenbuße. Doch der Streit dauert an.

Outdoor, Indoor - am Flughafen: Surfen vor der Haustüre. Das Meer brauchen Surfer nicht mehr unbedingt. Vom Eisbach mitten in München hat sich die Welle in Deutschland und Europa ausgebreitet.

«Tourists go home»: In Spanien sorgen Anti-Urlauber-Demos für Aufsehen. Ohne die Probleme dort kleinreden zu wollen: Die meisten Touristen pro Kopf haben andere Urlaubsländer.

Deutsche Unternehmen schickten ihre Mitarbeiter im ersten Halbjahr wieder öfter auf Reisen. Das zeigt eine Auswertung von AirPlus International. Die Fußball-Europameisterschaft hatte allerdings keinen nennenswerten Einfluss auf die Reisetätigkeit.

Selfie vor dem Eiffelturm, Strandtag in der einsamen Bucht, Sangria in der Sonne - für die allermeisten gehört das Posten der Erlebnisse in sozialen Netzwerken zum Urlaub dazu. Für möglichst viele Likes wird dabei einiges in Kauf genommen.

In Frankfurt wurde erstmals in einem Monat die Millionengrenze bei den Übernachtungszahlen geknackt. Aus dem Ausland strömten besonders viele Fans in die Stadt am Main. Auch die Stadt Köln freut sich über ein herausragendes erstes Halbjahr.

Bayern hat den Königssee, Baden-Württemberg den Blautopf: Schauen Influencer auf das Ländle, wird die blaue Quelle unweit von Ulm oft als Ausflugstipp genannt. Damit dürfte nun erst mal Schluss sein.

Die Deutschen verreisen gerne mit dem eigenen Wohnmobil. Die Zulassungszahlen zeigen ein deutliches Plus. Kommende Woche beginnt in Düsseldorf der «Caravan Salon».

Der Tourismus in Hamburg kann im ersten Halbjahr keine Zuwächse verbuchen. Insgesamt zählten die Touristiker 7,54 Millionen Übernachtungen, wie die Hamburg Tourismus GmbH mitteilte. Das seien zwar 60 000 weniger als im ersten Halbjahr 2023, aber 386 000 oder 5,1 Prozent mehr als im letzten Vor-Corona-Jahr 2019. 

Schleswig-Holstein hat im Juni weniger Übernachtungsgäste angelockt als im Vorjahresmonat. Auch die Zahl der gebuchten Übernachtungen ging zurück. Dazu beigetragen haben könnte der spätere Ferienbeginn in Nordrhein-Westfalen.