«C the Unseen»: Wie der Underdog Chemnitz sich herausputzt

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Chemnitz? Mancher hat sich verwundert die Augen gerieben, als die Jury vor einigen Jahren die Kulturhauptstadt Europas 2025 bekanntgab. Zwar ist die Stadt die viertgrößte in Ostdeutschland nach Berlin, Leipzig und Dresden. Doch das einstige «Manchester Sachsens», das zu DDR-Zeiten Karl-Marx-Stadt hieß und im Ruf einer sozialistischen Musterstadt stand, gilt als eher trist.

Dennoch konnte es die Experten mit seinen kulturellen Schätzen und Macherqualitäten überzeugen und hat Nürnberg, Hannover, Hildesheim und Magdeburg im Finale um den Titel geschlagen. 2025 lädt es Besucher ein, unter dem Motto «C the Unseen» Verborgenes und Unbekanntes zu entdecken. Denn Chemnitz ist ein Underdog. 

Anika Reineke empfängt in der Villa Esche im Südwesten der Stadt. Das Haus gilt als Baudenkmal von europäischem Rang. Durch die Glasdecke dringt das letzte Tageslicht in das große, blau gestaltete Foyer. Von hier geht es über eine repräsentative Treppe zur Galerie in das obere Stockwerk mit den Privaträumen der einstigen Fabrikantenfamilie. 

Die Esches waren führende Strumpfhersteller in Deutschland, ihre Waren weltweit gefragt. Anfang des 20. Jahrhunderts ließ sich Herbert Esche mit seiner Frau Johanna eine neue Villa bauen. Dazu verpflichteten sie keinen geringeren als den belgischen Gestalter Henry van de Velde.

«Es war sein erster Architekturauftrag in Deutschland», sagt Kunsthistorikerin Reineke, die das Museum in der Villa leitet. Der Belgier - wichtiger Vertreter des Jugendstils und Wegbereiter des Bauhauses - entwarf nicht nur die Villa. Er hat auch das Innenleben entworfen: Möbel, Leuchten und Wandverkleidungen bis hin zum Speiseservice. 

Fabrikanten holen die Moderne in die Stadt

So steht die Villa für zweierlei: Chemnitz als bedeutende Industriestadt, aber auch ihre architektonischen und künstlerischen Schätze. Denn der wirtschaftliche Aufschwung vor allem getragen von Textilindustrie und Maschinenbau führte zu einem neuen Selbstverständnis wohlhabender Fabrikanten wie den Esches.

«Sie wollten die Moderne in die Stadt holen und konnten es sich leisten», sagt Reineke. 1905 lockten sie einen weiteren Kunststar in die aufstrebende Stadt: den norwegischen Maler Edvard Munch («Der Schrei»). Er verewigte die Familie Esche und das Tal des namensgebenden Flusses Chemnitz in Gemälden. Sowohl zu Munch als auch zu van de Velde gibt es im Kulturhauptstadtjahr umfangreiche Ausstellungen. 

Während der Chemnitz-Besucher vom Hauptbahnhof zur Villa Esche rund 15 Minuten mit der Straßenbahn fahren muss, ist viel Sehenswertes gut zu Fuß zu erreichen. Vom Bahnhof einmal um die Ecke gebogen, kommt der Theaterplatz in Sichtweite, wo Opernhaus, König-Albert-Museum - Sitz der Kunstsammlungen - und Petrikirche ein Ensemble bilden. Nur eine Straße weiter gen Innenstadt wartet das wohl bekannteste Wahrzeichen: die riesige Büste des streng in die Ferne blickenden Philosophen Karl Marx. 

Riesige Marx-Büste hat DDR überdauert

Der 40 Tonnen schwere Bronzekoloss des russischen Bildhauers Lew Kerbel hat auf seinem Sockel die DDR überdauert. Heute ist das von Einheimischen «Nischel» genannte Monument beliebtes Fotomotiv und Treffpunkt - häufig auch für Kunstaktionen. Oft wird es popkulturell adaptiert und ziert Souvenirs: vom Untersetzer über die Powerbank bis zum T-Shirt. 

Von hier empfiehlt es sich zunächst einen Bogen ums Stadtzentrum zu machen. Denn nur wenige hundert Meter weiter zieht eine «Ikone der Moderne» den Blick auf sich: der als Kaufhaus Schocken 1930 eröffnete Bau des Architekten Erich Mendelsohn.

Heute können Interessierte dort tief in die Vergangenheit eintauchen mit einer eindrucksvollen Präsentation des Staatlichen Museums für Archäologie. Zum Kulturhauptstadtjahr beleuchtet es auch die Geschichte des Bergbaus vor allem im Erzgebirge. Derweil lädt im Erdgeschoss die deutsch-israelische Schauspielerin Nirit Sommerfeld in ihrem Café und Bistro zu einer Pause ein. 

Den Innenstadtring folgend wartet ein weiterer imposanter früherer Kaufhausbau - das Tietz, das heute mehrere Kulturinstitutionen beherbergt. Während der versteinerte Wald im Lichthof auf das Naturkundemuseum verweist, breitet in einer der oberen Etagen die Neue Sächsische Galerie ihre Kunst aus.

Die Arbeitsbibliothek des in Chemnitz aufgewachsenen Schriftstellers Stefan Heym hat hier ebenfalls ein neues Zuhause gefunden. Der Autor von «5 Tage im Juni» über den Volksaufstand in der DDR galt als wichtigste Stimme der oppositionellen Literatur in der DDR. Eine Ausstellung informiert über sein Leben und Werk. 

Kunstinteressierte sollten den Innenstadtring zum Museum Gunzenhauser folgen. Das Ex-Bankgebäude beherbergt die Sammlung des gleichnamigen Münchner Galeristen: mehr als 3.000 Werke von 270 Künstlern - vor allem Otto Dix, Alexej von Jawlensky, Willi Baumeister und Gabriele Münter. 

Eines der größten Gründerzeit- und Jugendstil-Viertel in Europa

«Die Innenstadt von Chemnitz wurde im Zweiten Weltkrieg zu 85 Prozent zerstört», berichtet Veronika Leonhardt. Deswegen hat sich das Gesicht der Stadt hier nach dem Krieg stark verändert. Heute verweilt die Stadtführerin nur kurz im Zentrum, sondern führt die Besucher raschen Schrittes in eines der derzeit beliebtesten Wohnviertel. Es geht über den Fluss auf eine Anhöhe: den Kaßberg.

Am Eingang des Viertels fällt eine moderne Wohnanlage auf, die durch ihre besondere Form auch «tanzende Siedlung» genannt wird. Doch Leonhardts Fokus liegt auf den historischen Gebäuden. Der Kaßberg gilt als eines der größten Gründerzeit- und Jugendstil-Viertel in Europa.

«Bis 1855 waren hier nur Wiesen und Felder.» Doch als die Stadt mit der Industrialisierung rasant wuchs, entstand hier oben im Abstand zu den Fabriken eine Vielzahl neuer Häuser. «Heute haben wir hier 750 denkmalgeschützte Gebäude und Fassaden», sagt Leonhardt. 

Auf dem Kaßberg haben bekannte Kulturschaffende einen Teil ihres Lebens verbracht, wie die Bauhaus-Künstlerin Marianne Brandt und der Autor Lothar-Günther Buchheim («Das Boot»); Schauspieler Matthias Schweighöfer hat hier sein Abitur gemacht.

Zu den Glanzstücken des Viertels zählen die «Majolika-Häuser», die kurz vor 1900 entstanden. Der Name sei maurischen Ursprungs und beziehe sich auf zinnglasierte Keramik, sagt die Stadtführerin. Solchen Fliesen zieren die Fassade, bilden Ornamente und figürliche Darstellungen.

Startschuss für Kulturhauptstadtjahr

Eröffnet wird das Kulturhauptstadtjahr am 18. Januar - kurz nachdem der Veranstaltungsreigen in den Städten Nova Gorica und Gorizia losgeht, die 2025 ebenfalls den Titel Europäische Kulturhauptstadt tragen. Auch in Chemnitz steigt die Spannung. Die Anfragen nach Führungen seien deutlich gestiegen, sagt Leonhardt. Rund zwei Millionen Besucher erwartet Chemnitz im Kulturhauptstadtjahr. Dann locken viele weitere Kulturprojekte und Veranstaltungen - das Programmbuch ist mehr als 400 Seiten stark. 

Links, Tipps, Praktisches:

Anreise: Chemnitz liegt verkehrsgünstig an den Autobahnen A4 (Erfurt-Dresden) und A72 (Hof-Leipzig). Die Anbindung an den Bahn-Fernverkehr ist dagegen mau. Es gibt nur wenige IC-Direktverbindungen von und nach Berlin am frühen Morgen und späten Abend.

Kulturhauptstadt 2025: Offizielle Eröffnung ist am 18. Januar. Eine Vielzahl an Veranstaltungen ist geplant. Das frühere Chemnitzer Braunkohlekraftwerk mit seiner weithin sichtbaren Esse wird zu einer Galerie für zeitgenössische Kunst und mehr als 30 Museen der Region präsentieren Exponate in einem «Museumcircle» nach John Cage.

Auch die Sportkultur wird gefeiert: Dazu ist unter anderem am 18. Mai ein Marathonlauf geplant, zu dem sich schon mehr als 2.500 Läufer angemeldet haben. Zu den Vorhaben gehören ein Kunst- und Skulpturenpfad, der die Stadt mit dem Umland verbindet ebenso wie Festivals zu Musik, Tanz und Straßenkunst.

Open-Air-Konzerte sind ebenfalls geplant: So wird am 6. August Bryan Adams («Summer of '69») auf der Küchwaldwiese erwartet, am 10. August der Rapper Sido («Bilder im Kopf»). Erste Ausstellungen laufen bereits, darunter die Bergbau-Schau «Silberglanz & Kumpeltod» des Archäologiemuseums sowie «Reform of Life & Henry van de Velde mittendrin» der Kunstsammlungen Chemnitz.

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