Plädoyer für die Arbeit

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Noch nie arbeitete der Mensch so wenig wie heute. Die Leistungsgesellschaft verwandelt sich allmählich in eine Freizeitgesellschaft unter Hochspannung. Ist das ein Privileg der Wohlstandsgesellschaft? Oder schon ein Symptom der nächsten Krise?

Mal ehrlich: Macht Ihr Beruf Ihnen so viel Spaß, dass Sie noch jeden Morgen ins Büro, ins Hotel oder in die Fabrik kommen würden, wenn Sie es finanziell nicht mehr nötig hätten? In einer kürzlich erschienenen Umfrage stellte man Beschäftigten genau diese Frage. Und tatsächlich würden 56 Prozent der Befragten das Leben als Privatier vorziehen. Viel mehr als in den Jahren zuvor.

Das ist nicht die einzige Erkenntnis der Erhebung, die Führungskräfte und Manager beunruhigen dürfte. Mit Recht fragen sie sich: Woher soll der Wohlstand für alle denn kommen, wenn nicht jeder bereit ist, seinen engagierten Beitrag dazu zu leisten? „Kräftig in die Hände gespuckt für das deutsche Bruttosozialprodukt“, so lautete einst der Refrain eines Pop-Gassenhauers.


Über den Autor Albrecht von Bonin

Albrecht von Bonin ist einer der profiliertesten Personalberater in der Hospitality Industry. Die Suche und Auswahl von Spitzenkräften, der Einsatz von Interim Managern sowie Management Coaching für Führungskräfte und Unternehmer – das sind die Kernkompetenzen, mit denen VON BONIN und die avb Management Consulting echte Mehrwerte bietet.

Mit seinem Fachbeiträgen bei Linkedin, die auf der Erfahrung von 40 Jahren Beratungspraxis fußen, erreicht von Bonin seit Jahren viele tausend Leser. Jetzt gibt es seine Beiträge auch bei Tageskarte.


Von wegen "Kräftig in die Hände gespuckt"

Tatsächlich ist der Beruf den deutschen Arbeitnehmern immer weniger wichtig. Ein Großteil würde die Arbeit reduzieren, in die Teilzeit wechseln, in eine 4-Tage-Woche – oder eben gleich ganz aufhören. Bei jungen Menschen ist dieses Phänomen besonders deutlich ausgeprägt. Egal in welcher Branche man sich umhört - Industrie, Handwerk, Hotellerie, Tourismus etc. - überall singen Personalverantwortliche das gleiche Lied: „Komm mir bloß nicht mit jungen Leuten. Die wollen nicht mehr engagiert arbeiten – zumindest nicht so wie ihre Eltern, die eine 40-Stunden-Woche gewohnt waren, Präsenzpflicht in Büro, Produktionshalle, Akademie, Schule, Einzelhandel etc.“ Viele von ihnen glauben, sie könnten sich das leisten. Überall fehlen Arbeits- und vor allem Fachkräfte. Wer heute gut ausgebildet ist, kann sich seinen Job aussuchen, weil Arbeitgeber Schlange stehen. Niemand von ihnen stellt sich heute vor, wohin ihr „Taktik der knappen Ware“ unser Land führen könnte. Und: Wer, wenn nicht die Engagierten und Motivierten unter uns, soll denn den Wohlstand, die Altersabsicherung, kurz: die Lebensqualität in Zukunft finanzieren, wenn immer mehr Menschen das Leben im Schongang bevorzugen und ständig nur Forderungen an den Staat oder die Arbeitgeber stellen?

Das macht mir Sorgen. Ich finde, wir sollten Bauarbeiter bewundern. Ganz nüchtern und ungetrübt. Man kann kaum an einer Baustelle vorbeigehen, ohne ihnen zuzuschauen. Bei Hitze und Frost sind sie da, manchmal auch nachts unter Flutlicht. Ehrlich, wenige von uns können mit reinem Gewissen von sich behaupten, sie verdienten ihr Brot – wie ein Bauarbeiter – im Schweiße ihres Angesichts. Bauarbeiter sind für mich die Heroen der Arbeitswelt.

Murren auf hohem Niveau

Klagen über Arbeitsbelastung, Stress und Leistungsdruck sind an Orten, wo Handwerk gepaart mit Muskelkraft gefragt ist, am seltensten zu hören. Anders dagegen in klimatisierten Büros, wo man auf bequemen Drehstühlen sitzt und Gerätschaften aller Art die Arbeit erleichtern. Die Arbeitsbelastung nehme zu, heißt es dort, die Anforderungen ebenso. Neben sinnvoller Arbeit steige der Anteil an Bullshit-Tätigkeiten. Außerdem habe sich der Druck erhöht. Er komme – natürlich - von oben – woher auch sonst.

Gleichgültig, wo – ob in der Hotellerie, Touristik, im öffentlichen Dienst, bei Konzernen oder im privaten Mittelstand – der Tenor ist tendenziell der gleiche: Die Angestellten leiden und murren – auf hohem Niveau. Fühlen den Burnout kommen, Fluktuation und Krankenstände sind exorbitant hoch.

Niemand bestreitet sicher die Kraft der subjektiven Wahrnehmung. Aber die Statistik spricht gegen die murrenden Zeitgenossen: Halten wir uns vor Augen: Noch nie hat der Mensch in unseren Breitengraden im Durchschnitt so wenig gearbeitet wie heute – und zwar gemessen an den täglichen Arbeitsstunden und an der Lebensarbeitszeit. Mehr noch – noch nie standen den Menschen so viele ausgeklügelte Apparaturen, Computer, Maschinen zur Seite, die ihre Arbeit erleichtern – sowohl beim Denken wie auch bei körperlicher Anstrengung. Das Klagen steht also in eklatantem Missverhältnis zu den empirischen Fakten. Auch das prahlerische Getue über den regelmäßigen 10 bis 14 Stunden-Tag mancher Manager entlockt einem höchstens ein müdes Lächeln. Verglichen mit den Arbeitszeiten und körperlichen Belastungen der Arbeiterschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder den Näherinnen, die heute in den Sweat Shops Indiens, Pakistans, Bangladeschs unsere exklusiven Markenhemden zusammennähen, sind sie ein Klacks.

Doch mit gutem Grund lassen Mitarbeiter heutzutage nicht mehr alles mit sich machen. Gesetze regeln Ferien-, Freizeit- und Rentenansprüche. Zeiterfassung setzt der Belastung Grenzen. Sicherheitsbestimmungen schützen vor allerlei Gefahren für Leib und Leben. Unzumutbare Arbeitsbedingungen sind abgesehen von wenigen Ausnahmen geradezu verboten. Richtig so. Allerdings sind die Grenzen der Zumutbarkeit nicht ein für alle Mal festgeschrieben. Die Tendenz zeigt deutlich in eine Richtung: Die Belastungstoleranz schwindet. Am deutlichsten ist das bei der jüngeren Generation der Arbeitnehmer zu beobachten (siehe oben).

Es lebe die Freizeitgesellschaft!

Dazu hat sich inzwischen eine erstaunliche gegenläufige Bewegung eingestellt: Während werktags von neun bis fünf der Zumutbarkeit des Arbeitslebens Grenzen gesetzt sind, findet jenseits davon eine beispiellose Kampfzone statt. Wird die Belastung während der Arbeitszeit von mancherlei Rücksichten reguliert, so kennt sie nach Arbeitsschluss kaum noch Einschränkungen. Die Grenze des Zumutbaren ist hier dehnbar geworden. Stattdessen zählt das Streben nach dem Adrenalin-Kick. Es gilt Höchstleistung in der Freizeit zu erbringen.

Sind wir nicht längst aus dem Zeitalter der Leistungsgesellschaft heraus? Hurra! Wir sind in der Epoche der Freizeit-Hochleistungsgesellschaft angekommen! Es scheint, kein Arbeitnehmer, wenn er nicht halbwegs von Sinnen ist, würde sich heute bieten lassen, was sich viele von uns nach Arbeitsschluss selbst abverlangen: Nächtliches Dauer-TV-Serien-Gucken, Stadtmarathon, Freeclimbing, Extrem Mountain Biking, Paragliding, Power Partys, Fallschirmspringen, Autorennen, Bergsteigen im Himalaja… Manches dürften sie von Gesetzes wegen im Arbeitsverhältnis gar nicht tun, weil es schlicht weg verboten wäre. Aber in der Freizeit erlauben wir es uns. Awesome People!

Zugegeben: Wir sollten es als ein seltenes Privileg empfinden, dass vielen von uns nach Arbeitsschluss noch ausreichend Energie zu allerlei Tätigkeiten bleibt, bei deren Ausübung wir mitunter den Kopf frei kriegen oder Kopf und Kragen riskieren. Denn während unsere Lebenserwartung immer noch steigt, sinkt unsere Arbeitszeit stetig weiter. Die wachsende Differenz will ausgefüllt sein. Aber vielleicht tut es unserer Gesellschaft und unserem Wohlstand auf Dauer gar nicht so gut, wenn sie sich zunehmend damit beschäftigt, die Ausdehnung der freien Zeit voranzutreiben - anstatt das Image der Arbeit schlecht zu reden?


Autor

Albrecht von Bonin
avb Management Consulting
www.avb-consulting.de
VON BONIN + PARTNER Personalberatung
www.von-bonin.de


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