800 Aromen pro Bohne - Wie regionale Röstereien den Markt aufmischen

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Seit fünf Uhr ist Philipp Reichel an diesem Morgen auf den Beinen, doch Müdigkeit zeigt der 33-Jährige keine. Das mag an seinem Beruf liegen: Mitten im Kaffee 9, einem Szenecafé in Berlin-Kreuzberg, betreibt der Unternehmer eine eigene Rösterei. Seit mehreren Stunden dreht sich dort unter seiner Aufsicht die schwere Rösttrommel, in der die weißlich-grünen Kaffeebohnen getrocknet und erhitzt werden. Bis der in den Kirschkernen enthaltene Zucker karamellisiert und den Bohnen ihre typisch braune Färbung verleiht.

Reichel wartet auf den sogenannten Crack, den Moment, in dem die Bohne aufbricht und auch der letzte Anteil Feuchtigkeit aus ihr entweicht. «Wie beim Popcorn», sagt er, und tatsächlich hört man es im Inneren der Maschine nach einiger Zeit leise knallen und ploppen.

Auf einem Bildschirm prüft Reichel die Temperatur, reguliert bei Bedarf nach. «So stellen wir sicher, dass jede Röstung am Ende gleich schmeckt.» Mehr als 800 Aromen steckten potenziell in jeder Kaffeebohne, sagt er. Welche davon wir schmecken, hänge davon ab, wie sie angebaut, gelagert und eben geröstet wird.

Um Reichel herum herrscht an diesem Morgen reger Betrieb: Junge Eltern, Geschäftsleute, Hipster sitzen an den hohen Holztischen des Kaffee 9, lesen Zeitung oder arbeiten an ihren Laptops. Das Café hat Reichel einst selbst geleitet. Inzwischen ist er ausgestiegen und nutzt die Räumlichkeiten für den Betrieb seiner Rösterei. Gemeinsam mit nur einer Mitarbeiterin liefert er im Monat bis zu 1,5 Tonnen geröstete Bohnen an zahlreiche Hauptstadt-Kunden und organisiert nebenher Schulungen und Workshops rund um Kaffee.

Kleinunternehmer wie Reichel, die mit wenigen Mitarbeitern vor allem die lokale Nachfrage nach hochwertigem Kaffee - sogenanntem Spezialitäten-Kaffee - bedienen, mischen derzeit vor allem in Ballungsgebieten den Markt auf. «Das Segment wächst», sagt Holger Preibisch, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Kaffeeverbands in Hamburg. «Wir sehen die Zahl kleiner Röstereien bundesweit inzwischen bei rund 650.» Ihre Anzahl habe sich seit 2010 etwa verdoppelt. Auch in Hamburg und besonders im Rheinland ist eine eng vernetzte Szene aus Röstern, Café-Betreibern und Baristi, also den Zubereitern, entstanden.

Sie setzen auf hochwertigen Anbau, auf lokale Verarbeitung, Handarbeit und auf Leidenschaft fürs Produkt. Das kommt an, vor allem beim hippen Großstadtpublikum. «Die kleinen Röstereien sind für das Gesamtprodukt Kaffee ein Traum», sagt Preibisch, «weil dem Konsumenten in einer Rösterei viel einfacher als am Supermarktregal vermittelt werden kann, was Kaffeequalität ausmacht.»

Kein Getränk, nicht einmal Bier oder Tafelwasser, trinken die Verbraucher in Deutschland so gerne wie Kaffee: Rund 164 Liter konsumierte jeder von ihnen im vergangenen Jahr durchschnittlich, hat Preibischs Verband jüngst ermittelt. Beim Bier waren es 102 Liter - inklusive der immer beliebter werdenden alkoholfreien Sorten.

Und trotzdem verbinden viele mit gutem Kaffee nach wie vor schwarzen, kochend heißen und bitteren Wachmacher. Die kleinen Röster wollen das ändern. Für sie ist Kaffee mindestens so komplex wie Wein. Sie sprechen von Jahrgängen, Anbaugebieten, Verkostungen und Aromen. Und obwohl sie mit einem Marktanteil von lediglich fünf Prozent nur eine Nische bilden, treiben sie dabei auch die Großen vor sich her.

Spezialitäten-Kaffee von Tchibo, Jacobs, Dallmayr oder vom Discounter Aldi, mit Kirsch-, Schoko-, oder Karamellnote steht in kleinen Portionen inzwischen in jedem Supermarktregal. «Spezialitäten-Kaffees haben einen bedeutenden Anteil an unserem Sortiment und dieser ist in den vergangenen Jahren stetig gestiegen», teilt etwa ein Sprecher des Kaffee-Riesen Tchibo mit. «Diese Spitzenkaffees sind im oberen Preissegment angesiedelt und werden für circa zehn Euro pro Pfund angeboten.»

Jacobs wiederum bewirbt seine «Barista-Editionen» und macht sich damit die Begrifflichkeiten der lokalen Szene zu eigen. Kleinröster wie Reichel beobachten diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. «Auf der einen Seite sind es unsere größten Konkurrenten», sagt er. «Auf der anderen Seite schaffen es Dallmayr und Co., in ein paar Tagen mehr Menschen mit dem Thema zu erreichen als wir in einem Jahr.»

Dabei betonen die Großen nicht nur Qualität, sondern auch Nachhaltigkeit - ein Thema, bei dem die kleinen Röstereien häufig Nachholbedarf haben. «Die Lieferketten bei Kaffee sind extrem komplex», sagt Claudia Brück, geschäftsführende Vorständin des Vereins Transfair, der das bekannte Fairtrade-Siegel vergibt. «Für kleine Röstereien ist es sehr schwierig, diese komplett selbst unter Kontrolle zu halten.» Um das Risiko zu minimieren, kauften ihr bekannte Röster gezielt bei Fairtrade-Kooperativen. Andere bezögen ihren Rohkaffee bei Plantagen, deren Bewirtschaftung als nachhaltig gilt. Und es gebe solche, «die auf der Welle mitschwimmen, bei denen man nicht reinschauen kann und nicht genau weiß, woher kommt der Kaffee».

Auch Jonas Lorenz vom Forum Fairer Handel warnt vor Pauschalisierungen. «Es gibt diejenigen, die viel Wert auf Nachhaltigkeit legen und große Anstrengungen unternehmen, um das abzusichern. Und es gibt eben solche, die alleine den Faktor Qualität in den Vordergrund stellen.»

Reichel bezieht seinen Kaffee sowohl von großen Anbauern aus Brasilien, aber auch von Kleinbauern aus Guatemala oder Äthiopien. Er will sich mit seinem Betrieb der Initiative Transparent Trade Coffee anschließen. Das ist ein Verbund von kleinen Kaffeeröstern auf der ganzen Welt, die ihre Lieferketten und Kosten offenlegen, um transparent zu machen, welches Geld am Ende wo landet. Vereine wie das Forum Fairer Handel begrüßen solche Initiativen. Reichel sieht die Verantwortung aber auch bei den Verbrauchern. «Je öfter die Menschen ihren Röster fragen, woher der Kaffee kommt, umso mehr rückt das Thema in den Mittelpunkt.»


 

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