Wie viel Verbot ist erlaubt? - Corona und die Grundrechte

| Zahlen & Fakten Zahlen & Fakten

Der Oster-Gottesdienst in der Kirche verboten, das Familientreffen unmöglich, der Feiertagsausflug tabu: Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sind die drastischsten Beschränkungen der Freiheitsrechte in der Geschichte der Bundesrepublik. Wer findet, dass der Staat zu weit geht, darf in einigen Bundesländern nicht einmal demonstrieren. Für den Rechtsstaat ist das eine enorme Herausforderung. Kommen die Grundrechte unter die Räder?

WO STEHT'S? - DAS PROBLEM MIT DER ERMÄCHTIGUNG

Grundlage aller Maßnahmen ist das Infektionsschutzgesetz. Es ermächtigt auch die Bundesländer, eigene Ge- und Verbote zu erlassen. Als «notwendige Schutzmaßnahme» dürfen unter anderem die Freiheit der Person, die Versammlungsfreiheit und die Freizügigkeit eingeschränkt werden. Das Problem: Wann, warum, in welcher Form und für wie lange welche Rechte eingeschränkt werden dürfen, steht nirgendwo im Detail. Daran hat auch die eilige Überarbeitung Ende März nichts geändert.

Juristen sprechen in so einem Fall von einer fehlenden oder unzureichenden Ermächtigungsgrundlage. «Der Gesetzgeber hat der Regierung im Prinzip keine Vorgaben gemacht, welche Eskalationsstufen im Falle einer Pandemie bei der Beschränkung von Freiheitsrechten möglich und erforderlich sind», sagt Bijan Moini, Hausjurist der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). «Jetzt in Eilverfahren diese Abwägung leisten zu müssen, lastet den Gerichten enorm viel auf.»

NICHTS IST SICHER - DAS DILEMMA DER GERICHTE

Der Staat darf zum Infektionsschutz in Grundrechte eingreifen - aber nicht alles, was vorstellbar ist, ist auch rechtmäßig. Die Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein, das bedeutet: geeignet, erforderlich und angemessen. Was erst einmal einleuchtend klingt, stellt die Richter bei Corona vor ein kaum lösbares Problem. Denn selbst Experten fällt es schwer, vorherzusagen, welche Fallzahlen das Gesundheitssystem an seine Belastungsgrenze bringen würden. Und gleichzeitig weiß niemand so genau, welche Verbote und Beschränkungen notwendig sind, um die schweren Verläufe nicht in diesen Bereich ansteigen zu lassen.

Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, spricht in der «Süddeutschen Zeitung» von einem Dilemma: «Es führt dazu, dass man derzeit keine ernsthaften rechtlichen Bedenken gegen die Maßnahmen erheben kann, auch wenn sie zu schwerwiegenden Grundrechtseingriffen führen.» Und: «Ich kann mir schon vorstellen, dass ein Richter sagt: Ich kann nicht die Verantwortung dafür übernehmen, den Schutz von Leben und Gesundheit hintanzustellen, selbst wenn die Freiheit der Person sehr wichtig ist.»

KLAGEN ÜBER KLAGEN - DIE WELLE DER EILANTRÄGE

Wie gegen alle Maßnahmen der öffentlichen Gewalt können sich die Menschen natürlich auch gegen die Corona-Verbote zur Wehr setzen. Landauf, landab gehen derzeit Eilanträge bei den Verwaltungs- und Verfassungsgerichten ein. Die Internetseite «LexCorona», die sämtliche Rechtsakte und Urteile zum Thema sammelt, verzeichnete am Karfreitag schon mehr als 90 Gerichtsentscheidungen.

Erfolg haben bisher die wenigsten Kläger. «Die Gerichte sind sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, die Einschätzung der Behörden durch eigene Werturteile zu ersetzen», beobachtet Moini.

Auch das Bundesverfassungsgericht hat inzwischen mehrere Eilanträge zurückgewiesen. In ihren Entscheidungen stellen die Richter den Schutz von Gesundheit und Leben an oberste Stelle. Vor allem in einem Beschluss vom Karfreitag zum hessischen Verbot von Zusammenkünften in Kirchen lassen sie aber auch deutlich erkennen, wie sehr solche Maßnahmen an die Schmerzgrenze gehen: Sie sprechen von einem «überaus schwerwiegenden Eingriff in die Glaubensfreiheit». Für den Kläger, einen gläubigen Katholiken, seien die Nachteile «irreversibel».

WIE WEITER? - DIE BEDEUTUNG DER EXIT-STRATEGIE

Mit vielen Fragen werden sich die Gerichte erst in den nächsten Monaten oder gar Jahren in den Hauptsacheverfahren vertieft befassen können. Die GFF ist zuversichtlich, dass manches dann wieder zurechtgerückt wird - und will bei Bedarf auch selbst dafür streiten.

Besonders große Sorge bereiten den Bürgerrechtlern die strikten Versammlungsverbote in einigen Bundesländern. In einem Fall hat ein Gericht sogar eine Demonstration von zwei Personen untersagt, die Schutzmasken tragen und zueinander Abstand halten wollten.

Rechtsexperten sind sich außerdem einig, dass die schrittweise Lockerung der Corona-Maßnahmen eine entscheidende Rolle spielt. Der gestaffelte «Exit» sei «ein nicht nur praktisch naheliegender, sondern auch verfassungsrechtlich gebotener Weg», schreibt der frühere Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Auch Ex-Gerichtspräsident Papier meint: «Es muss alles getan werden, um Art und Ausmaß der Gefahren genauer einzugrenzen.» Auf Dauer könne man eine solche flächendeckende Beschränkung nicht hinnehmen. «Das muss befristet sein.»

Das mahnt am Karfreitag auch das Bundesverfassungsgericht an: Das Gottesdienst-Verbot sei bei jeder Verlängerung einer strengen Prüfung zu unterziehen - und, sobald das verantwortet werden kann, unter strengen Auflagen zumindest regional begrenzt zu lockern. (dpa)

F&A der GFF zu Corona und Grundrechten

Infektionsschutzgesetz, §§ 28 bis 31 zu Maßnahmen

Wiki "LexCorona" mit Rechtsakten und Gerichtsentscheidungen

BVerfG-Eilentscheidung zur bayerischen Corona-Verordnung

BVerfG-Eilentscheidung zu verbotener Demo

BVerfG-Eilentscheidung zum Gottesdienst-Verbot

Papier-Interview auf Sueddeutsche.de (für Abonnenten)

Gastbeitrag von Di Fabio auf FAZ.net (für Abonnenten)

GFF-Analyse zur Beschränkung der Versammlungsfreiheit

Fachdebatte zum Coronavirus im "Verfassungsblog"

Infos zur Verwaltungsgerichtsbarkeit

Infos zu Eilverfahren in Karlsruhe

Infos zu Verfassungsbeschwerden


 

Zurück

Vielleicht auch interessant

Frühere Untersuchungen hatten darauf hingedeutet, dass Menschen, die wenig Alkohol trinken, im Vergleich zu Abstinenzlern weniger anfällig für manche Krankheiten sind. Doch eine neue Analyse widerspricht - und nennt konkrete Gründe für jene Resultate.

Wer Jobangebote über Messenger-Dienste wie Telegram und WhatsApp erhält, sollte vorsichtig sein. Die Verbraucherzentrale Niedersachsen warnt vor betrügerischen Maschen und gibt Tipps zum Schutz.

Arbeitgeber zahlen bei Krankheit bis zu sechs Wochen Gehalt. Doch was, wenn man danach wegen eines anderen Grundes krankgeschrieben wird? Bekommen Arbeitnehmer dann erneut sechs Wochen volles Gehalt?

Die Menschen in Europa trinken nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch immer viel zu viel Alkohol. In EU-Ländern habees seit mehr als einem Jahrzehnt keine wesentlichen Veränderungen beim Alkoholkonsum gegeben.

Ein Pestizid, das seit Jahrzehnten verboten ist, und Verunreinigungen mit Schmieröl: All das hat in Rapsölen nichts verloren. Doch «Öko-Test» hat diese Mängel entdeckt.

Nach der Teil-Legalisierung von Cannabis kann es vorkommen, dass man unter der Woche kifft und das Cannabis dann in der Arbeitszeit noch nachweisbar ist. Bekifft zur Arbeit zu erscheinen und dadurch die Aufgaben nicht erledigen zu können, geht natürlich nicht. Doch darf der Arbeitgeber einfach so Drogentests anordnen?

Glücklich kann sich schätzen, wer zum Arbeiten im kühlen Keller sitzt. In anderen heimischen Arbeitszimmern - etwa unter dem Dach - wird es aber bei sommerlichen Temperaturen gehörig warm. Aber wer ist für das Raumklima zu Hause verantwortlich? Müssen Arbeitgeber auch dort für Abkühlung sorgen?

Die Frist für die Abgabe der Corona-Schlussabrechnungen läuft zum 30. September 2024 aus. Nach aktuellen Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums fehlen immer noch 300.000 Schlussabrechnungen. Worauf Unternehmen achten müssen.

Jeden Tag besuchen zahlreiche Touristen Hamburg und übernachten auch an der Elbe. Das Statistikamt erhebt dazu Zahlen. Und die haben sich im Vergleich zum Vorjahr verändert.

Für die Urlaubsplanung informiert sich die Mehrheit der Deutschen im Netz: 64 Prozent derjenigen, die generell Urlaubsreisen machen, holen sich auf Online-Reise- und Vergleichsportalen Inspiration für ihre Reiseziele, 47 Prozent online direkt bei den Dienstleistern wie zum Beispiel Websites der Hotels, Reiseveranstalter oder Fluggesellschaften.