Ampelregierung geplatzt - Bundeskanzler Scholz stellt am 15. Januar die Vertrauensfrage

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Bundeskanzler Olaf Scholz will die Vertrauensfrage stellen. Der Bundestag solle darüber am 15. Januar abstimmen, sagte der SPD-Politiker in Berlin.

Zuvor hatte Scholz seinen Finanzminister Christian Lindner (FDP) entlassen, nachdem dieser eine Neuwahl des Bundestags vorschlug.

Scholz griff Lindner in seiner Rede scharf an. Er sprach davon, Lindner habe zu oft sein Vertrauen gebrochen. 

Lindner schlug Neuwahlen vor

Lindner schlug den Angaben zufolge vor, dass die Ampel-Parteien, wie 2005 gemeinschaftlich schnellstmöglich Neuwahlen für Anfang 2025 anstreben sollten, um «geordnet und in Würde» eine neue Regierung für Deutschland zu ermöglichen. Die FDP wäre bereit, noch den Nachtragshaushalt 2024 gemeinsam zu beschließen und einer geschäftsführenden Bundesregierung anzugehören.

Zuvor hatten die Spitzen von SPD, Grünen und FDP zweieinhalb Stunden beraten, um Wege aus der Ampel-Krise zu finden. Im Kern ging es darum, wie das Milliardenloch im Haushalt 2025 gestopft und die schwer angeschlagene deutsche Wirtschaft wieder auf Trab gebracht werden kann.

Lindner hatte «Herbst der Entscheidungen» ausgerufen

Lindner hat schon vor einiger Zeit den «Herbst der Entscheidungen» für die Koalition ausgerufen. Er meinte damit vor allem den Haushalt für das nächste Jahr, der am 29. November im Bundestag verabschiedet werden sollte. Daneben ging es ihm um eine Strategie, wie Deutschland aus der Wirtschaftskrise geführt werden soll. Dazu hat er Vorschläge gemacht, die den Streit in der Koalition eskalieren ließen. In seinem Konzept für eine Wirtschaftswende fordert Lindner unter anderem die endgültige Abschaffung des Solidaritätszuschlags auch für Vielverdiener und einen Kurswechsel in der Klimapolitik. 

Gegen solche Ideen gab es erheblichen Widerstand bei SPD und Grünen. Habeck war Lindner aber auch einen Schritt entgegengekommen. Er hat sich am Montag bereiterklärt, die nach der Verschiebung des Baus eines Intel-Werks in Magdeburg frei werdenden Fördermilliarden zum Stopfen von Haushaltslöchern zu verwenden.

Scholz: Lindner hat mein Vertrauen gebrochen

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat Finanzminister Christian Lindner schwere Vorwürfe gemacht. Dem FDP-Politiker gehe es um die eigene Klientel und um das kurzfristige Überleben der eigenen Partei, sagte Scholz in Berlin. Die Unternehmen im Land bräuchten Unterstützung, sagte er mit Blick auf die schwache Konjunktur und hohe Energiepreise. Er verwies zudem auf die internationale Lage mit den Kriegen in Nahost und der Ukraine. «Wer sich in einer solchen Lage, einer Lösung, einem Kompromissangebot verweigert, der handelt verantwortungslos. Als Bundeskanzler kann ich das nicht dulden.» 

Scholz warf Lindner vor, in der gemeinsamen Regierungszeit Kompromisse durch öffentlich inszenierten Streit übertönt und Gesetze sachfremd blockiert zu haben. «Zu oft hat er kleinkariert parteipolitisch taktiert. Zu oft hat er mein Vertrauen gebrochen.» Es gebe keine Vertrauensbasis für die weitere Zusammenarbeit. «So ist ernsthafte Regierungsarbeit nicht möglich.»

Lindner wirft Scholz kalkulierten Bruch der Koalition vor

Der entlassene Finanzminister Christian Lindner hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vorgeworfen, den Bruch der Ampel-Koalition gezielt herbeigeführt zu haben. «Sein genau vorbereitetes Statement vom heutigen Abend belegt, dass es Olaf Scholz längst nicht mehr um eine für alle tragfähige Einigung ging, sondern um einen kalkulierten Bruch dieser Koalition», sagte der FDP-Vorsitzende in Berlin. Damit führe Scholz Deutschland in eine Phase der Unsicherheit. 

Lindner warf SPD und Grünen vor, seine Vorschläge für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands nicht einmal als Beratungsgrundlage akzeptiert zu haben. Scholz habe lange die Notwendigkeit verkannt, dass Deutschland einen neuen wirtschaftlichen Aufbruch benötige. «Er hat die wirtschaftlichen Sorgen der Bürgerinnen und Bürger lange verharmlost», sagte Lindner. «Seine Gegenvorschläge sind matt, unambitioniert und leisten keinen Beitrag, um die grundlegende Wachstumsschwäche unseres Landes zu überwinden, damit wir unseren Wohlstand, unsere soziale Sicherung und unsere ökologische Verantwortung erhalten können.»

Scholz habe ultimativ von ihm verlangt, die Schuldenbremse des Grundgesetzes auszusetzen, sagte Lindner. «Dem konnte ich nicht zustimmen, weil ich damit meinen Amtseid verletzt hätte. Deshalb hat der Bundeskanzler in der Sitzung des Koalitionsausschusses am heutigen Abend die Zusammenarbeit mit mir und der FDP aufgekündigt.»

Scholz schlägt Merz Zusammenarbeit vor

Kanzler Olaf Scholz will Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) anbieten, rasch gemeinsam nach Lösungen zur Stärkung der Wirtschaft und der Verteidigung zu suchen. «Ich werde nun sehr schnell auch das Gespräch mit dem Oppositionsführer, mit Friedrich Merz suchen», sagte der SPD-Politiker in Berlin. Er wolle Merz anbieten, in zwei oder gerne auch noch mehr Fragen, «die entscheidend sind für unser Land, konstruktiv zusammenzuarbeiten: Bei der schnellen Stärkung unserer Wirtschaft und unserer Verteidigung», sagte der Kanzler. 

Die Wirtschaft könne nicht warten, bis Neuwahlen stattgefunden haben, ergänzte Scholz und fügte hinzu: «Und wir brauchen jetzt Klarheit, wie wir unsere Sicherheit und Verteidigung in den kommenden Jahren solide finanzieren, ohne dafür den Zusammenhalt im Land aufs Spiel zu setzen.» Auch mit dem Blick auf die Wahlen in Amerika sei das «vielleicht dringender denn je». Der Kanzler sagte: «Es geht darum, jene Entscheidung zu treffen, die unser Land jetzt braucht. Darüber werde ich mit der verantwortlichen Opposition das Gespräch suchen.»

Was bedeutet das Aus der Ampel?

Die zerstrittene Ampel ist am Ende. Nach einem dramatischen Treffen der Koalitionsspitzen entlässt Kanzler Olaf Scholz (SPD) Finanzminister Christian Lindner (FDP). Hintergrund ist ein erbitterter Streit um die Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Im März soll es nun zu vorgezogenen Neuwahlen kommen.

Scholz rechnete am Abend in fast beispielloser Art mit Lindner ab. Es gebe keine Vertrauensbasis für eine weitere Zusammenarbeit. Er habe Angebote für ein Paket gemacht, um den Standort zu stärken und den Haushalt 2025 zu beschließen. Lindner habe die Vorschläge abgelehnt. Er handle verantwortungslos, verfolge egoistische Ziele und habe nur die FDP-Klientel im Blick. 

Wie geht es weiter?

Scholz will wichtige Gesetze, die keinen Aufschub duldeten, noch bis Jahresende zur Abstimmung im Bundestag stelle. Er nannte etwa den Abbau der sogenannten kalten Progression, damit die Bürger mehr Netto vom Brutto hätten, die Stabilisierung der Rente sowie Sofortmaßnahmen für die Industrie. Er werde das Gespräch mit CDU-Chef Friedrich Merz suchen.

Am 15. Januar will Scholz im Bundestag die Vertrauensfrage stellen - in der Erwartung, dass das Parlament ihm gerade nicht das Vertrauen ausspricht, er also keine Mehrheit bekommt. In diesem Fall kann der Kanzler den Bundespräsidenten bitten, den Bundestag aufzulösen. Scholz sagte, der Bundestag könne den Weg für vorgezogene Neuwahlen freimachen. Diese könnten spätestens Ende März stattfinden

Die große Frage ist nun, was aus dem Bundeshaushalt 2025 wird. Dafür gibt es keine Ampel-Mehrheit mehr. Es gilt als unwahrscheinlich, dass die Union von CDU und CSU nun für eine Mehrheit sorgt. Wird kein Haushalt beschlossen, würde ab Januar eine sogenannte vorläufige Haushaltsführung gelten. Dann sind vorerst nur Ausgaben möglich, die nötig sind, um die Verwaltung aufrechtzuerhalten und rechtliche Verpflichtungen zu erfüllen. In der Praxis kann das Finanzministerium den Ministerien aber bewilligen, pro Monat einen Prozentsatz der Mittel des noch nicht verabschiedeten Haushaltsentwurfs zu nutzen.

Was sind die Gründe für das Aus?

Lindner schlug in einem Papier zu einer «Wirtschaftswende» eine zum Teil völlige Neuausrichtung der Wirtschafts- und Klimapolitik vor. In dem Papier wird etwa als Sofortmaßnahme die endgültige Abschaffung des Solidaritätszuschlags auch für Vielverdiener gefordert, ein sofortiger Stopp aller neuen Regulierungen sowie ein Kurswechsel in der Klimapolitik. Nationale Klimaziele sollten durch europäische ersetzt werden. Das stieß auf zum Teil erheblichen Widerstand bei SPD und Grünen. 

Scholz sagte, Lindner habe ultimativ und öffentlich eine grundlegend andere Politik gefordert - eine milliardenschwere Steuersenkung für wenige Spitzenverdiener und zugleich Rentenkürzungen für alle Rentnerinnen und Rentner. «Das ist nicht anständig», sagte der Kanzler. 

Umstritten war ebenso, wie Milliardenlücken im Haushalt 2025 geschlossen werden sollen. Scholz schlug mit Blick auch auf die Folgen des Ukraine-Kriegs eine Ausnahmeregelung zur Schuldenbremse vor. Die FDP lehnte das ab. 

Lindner warf Scholz vor, den Bruch der Ampel-Koalition gezielt herbeigeführt zu haben. «Sein genau vorbereitetes Statement vom heutigen Abend belegt, dass es Olaf Scholz längst nicht mehr um eine für alle tragfähige Einigung ging, sondern um einen kalkulierten Bruch dieser Koalition», sagte der FDP-Vorsitzende. Damit führe Scholz Deutschland in eine Phase der Unsicherheit. Lindner warf SPD und Grünen vor, seine Vorschläge für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands nicht einmal als Beratungsgrundlage akzeptiert zu haben. 

Warum gab es immer wieder Streit?

Wiederholt hatte es scharfe und in der Öffentlichkeit ausgetragene Streitigkeiten des 2021 als «Fortschrittskoalition» angetretenen Regierungsbündnisses gegeben. Beispiele: das lange Ringen um das Heizungsgesetz, die Kindergrundsicherung, die Migrationspolitik, das Rentenpaket und der Haushalt. Dabei hat die Ampel durchaus Erfolge vorzuweisen. So wurde die tiefe Energiepreiskrise nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine überwunden, die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro unterstützt, der Ausbau der erneuerbaren Energien aus Wind und Sonne nahm spürbar Fahrt auf. 

Doch zunehmend traten Spannungen auf, erst recht seit dem Haushaltsurteil des Verfassungsgerichts vor rund einem Jahr, das die Regierung in arge Geldnot brachte. Vor allem in der Wirtschaftspolitik prallten angesichts der Konjunkturflaute die unterschiedlichen ideologischen Auffassungen der Ampel-Partner voll aufeinander. SPD und Grüne wollten für mehr Investitionen eine Reform der Schuldenbremse, das lehnte die FDP ab.

Was bedeutet das Ampel-Aus für Deutschlands Rolle in der Welt?

Der Wahlsieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen bedeutet enorme Herausforderungen für Deutschland und Europa - zum Beispiel in Fragen der Sicherheitspolitik, der Handelspolitik und der Klimapolitik. Dramatisch könnte es bei der westlichen Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf gegen den russischen Angriffskrieg werden. Gerade in dieser wichtigen Phase fällt Deutschland als «Stabilitätsanker» aus. Auch vor dem Hintergrund der weltpolitischen Krisen hatte Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) gewarnt: «Dies ist die schlechteste Zeit, dass die Regierung scheitert.» 

Nach dem Ampel-Aus sagte Habeck, die Koalition habe nicht den besten Ruf gehabt. Man habe sich häufig gestritten. «Dennoch will ich für uns sagen, dass sich das heute Abend falsch und nicht richtig anfühlt, geradezu tragisch an einem Tag wie diesem, wo Deutschland in Europa Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit zeigen muss.»

Der Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft, Moritz Schularick, schrieb auf der Plattform X vom vielleicht schwierigsten Moment in der Geschichte der Bundesrepublik. «Zur inneren Strukturkrise kommen nun massive außenwirtschaftliche und sicherheitspolitische Herausforderungen, auf die wir nicht vorbereitet sind.» Deutschland müsse kurzfristig massiv in europäische Verteidigungskapazitäten investieren und mit Frankreich und anderen willigen Partnern vorangehen. 

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat bereits mehr Geld für die Bundeswehr gefordert und verweist auf die schnelle Aufrüstung Russlands unter Wladimir Putin. «Die russische Industrie produziert in drei Monaten mehr Waffen und Munition als die gesamte Europäische Union in einem Jahr. Und wir müssen damit rechnen, dass Putin willens und bereit ist, seine Streitkräfte auch zu nutzen», sagte Pistorius der dpa.

Was bedeutet das Aus für die Wirtschaft?

Das Ampel-Aus ist auch ein Rückschlag für die deutsche Wirtschaft. Für 2024 wird das zweite Rezessionsjahr in Folge erwartet. Deutschland hinkt anderen großen Wirtschaftsnationen hinterher. Bei Unternehmen und auch privaten Haushalten herrscht Unsicherheit. Firmen halten sich mit Investitionen zurück, Bürgerinnen und Bürger legen ihr Geld auf die hohe Kante. Das dürfte sich nun erst einmal nicht ändern.

Wirtschaftsverbände hatten die Ampel zu umfassenden Reformen aufgefordert - und zwar schnell. Die wichtigsten Punkte: die im internationalen Vergleich hohen Energiepreise müssten sinken, Bürokratie abgebaut und die teils marode Infrastruktur auf Vordermann gebracht werden.

Nach dem Scheitern der Ampel droht eine weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. Auch im kommenden Jahr könnte die Konjunktur nicht in Fahrt kommen.

Erklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz im Wortlaut

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat Finanzminister Christian Lindner entlassen und zugleich angekündigt, am 15. Januar im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen. Die Erklärung im Wortlaut: 

«Meine Damen und Herren! Ich habe den Bundespräsidenten soeben um die Entlassung des Bundesministers der Finanzen gebeten. Ich sehe mich zu diesem Schritt gezwungen, um Schaden von unserem Land abzuwenden. Wir brauchen eine handlungsfähige Regierung, die die Kraft hat, die nötigen Entscheidungen für unser Land zu treffen. 

Darum ging es mir in den vergangenen drei Jahren. Darum geht es mir jetzt. Ich habe dem Koalitionspartner von der FDP heute Mittag noch einmal ein umfassendes Angebot vorgelegt, mit dem wir die Lücke im Bundeshaushalt schließen können, ohne unser Land ins Chaos zu stürzen. Ein Angebot zur Stärkung Deutschlands in schwieriger Zeit. Ein Angebot, das auch Vorschläge der FDP aufgreift, das aber zugleich deutlich macht angesichts der Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen, brauchen wir größeren finanziellen Spielraum. 

Mein Angebot umfasste vier Kernpunkte. Erstens: Wir sorgen für bezahlbare Energiekosten und deckeln die Netzentgelte für unsere Unternehmen. Das stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland. 

Zweitens: Wir schnüren ein Paket, das Arbeitsplätze in der Automobilindustrie und bei den vielen Zuliefererbetrieben sichert. 

Drittens: Wir führen eine Investitionsprämie ein und verbessern noch einmal die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten, damit Unternehmen jetzt in den Standort Deutschland investieren.

Und viertens: Wir erhöhen unsere Unterstützung für die Ukraine, die einem schweren Winter entgegengeht. Nach der Wahl in den USA sendet das ein ganz wichtiges Signal: Auf uns ist Verlass. Ich muss jedoch abermals feststellen: Der Bundesfinanzminister zeigt keinerlei Bereitschaft, dieses Angebot zum Wohle unseres Landes in der Bundesregierung umzusetzen. Ein solches Verhalten will ich unserem Land nicht länger zumuten.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich hätte Ihnen diese schwierige Entscheidung gern erspart. Erst recht in Zeiten wie diesen, in denen die Unsicherheit wächst. In den USA hat Donald Trump die Präsidentschaftswahl klar gewonnen. Dazu habe ich ihm bereits heute gratuliert. Als deutscher Bundeskanzler ist es für mich selbstverständlich, dass ich mit dem künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten gut zusammenarbeiten werde. Gerade in unsicheren Zeiten kommt es auf ein enges transatlantisches Verhältnis an. 

Klar ist, Deutschland wird seiner Verantwortung gerecht werden müssen. Und wir müssen in Europa mehr denn je zusammenhalten und gemeinsam weiterhin in unsere eigene Sicherheit und Stärke investieren. Denn die Lage ist ernst. Es herrscht Krieg in Europa. Im Nahen Osten erhöhen sich die Spannungen. Gleichzeitig tritt unsere Wirtschaft auf der Stelle.

Der schwache Welthandel macht den Unternehmen zu schaffen. Die Energiepreise infolge des russischen Angriffskriegs, die Kosten für die Modernisierung unserer Wirtschaft, all das müssen Sie stemmen. Meine Gespräche mit der Wirtschaft zeigen: Unsere Unternehmen brauchen Unterstützung, und zwar jetzt. Wer sich in einer solchen Lage einer Lösung, einem Kompromissangebot verweigert, der handelt verantwortungslos. Als Bundeskanzler kann ich das nicht dulden. 

Immer wieder habe ich in den vergangenen drei Jahren Vorschläge gemacht, wie eine Koalition aus drei unterschiedlichen Parteien zu guten Kompromissen kommen kann. Das war oft schwer, das ging mitunter hart an die Grenze auch meiner politischen Überzeugung. Aber es ist meine Pflicht als Bundeskanzler, auf pragmatische Lösungen zum Wohle des ganzen Landes zu drängen. Zu oft wurden die nötigen Kompromisse übertönt durch öffentlich inszenierten Streit und laute ideologische Forderungen. Zu oft hat Bundesminister Lindner Gesetze sachfremd blockiert. Zu oft hat er kleinkariert parteipolitisch taktiert. Zu oft hat er mein Vertrauen gebrochen. Sogar die Einigung auf den Haushalt hat er einseitig wieder aufgekündigt, nachdem wir uns in langen Verhandlungen bereits darauf verständigt hatten. Es gibt keine Vertrauensbasis für die weitere Zusammenarbeit. So ist ernsthafte Regierungsarbeit nicht möglich. 

Wer in eine Regierung eintritt, der muss seriös und verantwortungsvoll handeln. Der darf sich nicht in die Büsche schlagen, wenn es schwierig wird. Der muss zu Kompromissen im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger bereit sein. Darum aber geht es Christian Lindner gerade nicht. Ihm geht es um die eigene Klientel. Ihm geht es um das kurzfristige Überleben der eigenen Partei. Gerade heute, einen Tag nach einem so wichtigen Ereignis wie den Wahlen in Amerika ist solcher Egoismus vollkommen unverständlich. Streit auf offener Bühne hat viel zu lange den Blick für das verstellt, was diese Regierung gemeinsam vorangebracht hat. 

Beim Thema irreguläre Migration kommen wir voran. Gegenüber dem Vorjahr konnten wir sie zuletzt um mehr als 50 Prozent verringern. Im Einsatz für sichere Energie und Klimaschutz machen wir große Fortschritte. Erstmals sind wir auf Kurs, unsere Ausbauziele für Windkraft und Solarenergie wirklich zu erreichen. Die Inflation ist auf 2 Prozent gesunken, die Reallöhne und die Renten steigen wieder. Wir haben Deutschlands Energieversorgung gesichert und die Energiepreise stabilisiert. Noch vor einigen Jahren musste fast jeder Vierte im Niedriglohnsektor arbeiten. Heute ist es nur noch jeder Siebte.

All das sind gute Nachrichten. All das hat die Regierung aus SPD, Grünen und auch FDP zusammen erreicht. Als Bundeskanzler habe ich einen Amtseid geschworen. Dieser Eid hat für mich große Bedeutung. Ich halte stets das Wohl unseres ganzen Landes im Blick. Meine feste Überzeugung lautet: Niemals, niemals dürfen wir innere, äußere und soziale Sicherheit gegeneinander ausspielen. Das gefährdet unseren Zusammenhalt. Das gefährdet am Ende sogar unsere Demokratie. 

Warum sage ich das? Bundesminister Lindner hat ultimativ und öffentlich eine grundlegend andere Politik gefordert. Milliardenschwere Steuersenkungen für wenige Spitzenverdiener und zugleich Rentenkürzung für alle Rentnerinnen und Rentner. Das ist nicht anständig, das ist nicht gerecht. Steuergeschenke mit der Gießkanne und zur Gegenfinanzierung ein Griff in die Tasche unserer Städte und Gemeinden. Ein Ausstieg aus Investitionen in die klimafreundliche Modernisierung unseres Landes: Auch das will Christian Lindner. Das schürt Unsicherheit in unserer Wirtschaft. Und es verspielt unsere Chance, bei den Technologien der Zukunft vorne dabei zu sein. Die USA, China und andere schlafen nicht. 

Verklausuliert spricht Christian Lindner von der Hebung von Effizienzreserven in unseren Sozialversicherungssystemen. Dahinter aber verbergen sich harte Einschnitte bei Gesundheit und Pflege und weniger Sicherheit, wenn jemand in Not gerät. Das ist respektlos gegenüber allen, die sich diese Sicherheiten hart erarbeitet haben, gegenüber allen, die Steuern und Sozialabgaben zahlen. 

Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Und die Wirklichkeit für Deutschland ist: Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Sicherheitslage auf Jahre hinaus tiefgreifend verändert. Wir müssen erheblich mehr in unsere Verteidigung und in die Bundeswehr investieren. Übrigens gerade jetzt, nach dem Wahlausgang in den USA. 1,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben bei uns vor dem russischen Bombenterror Schutz gefunden. Das bleibt richtig. Mit bald 30 Milliarden Euro unterstützen wir die Ukraine in ihrem Abwehrkampf. Auch das tun wir deshalb, weil es unseren eigenen Sicherheitsinteressen dient. 

Ein russischer Sieg käme uns vielfach teurer zu stehen. Die Unterstützung der Ukraine ist und bleibt wichtig. Und ich sage auch ganz klar: Ich bin nicht bereit, unsere Unterstützung für die Ukraine und Investitionen in unsere Verteidigung zulasten des sozialen Zusammenhalts zu finanzieren, zulasten von Rente, Gesundheit oder Pflege. Beides muss sein. Sicherheit und Zusammenhalt.

Deshalb werde ich die Bürgerinnen und Bürger auch nicht vor die Wahl stellen: Entweder wir investieren genug in unsere Sicherheit oder wir investieren in gute Arbeitsplätze, in eine moderne Wirtschaft und eine funktionierende Infrastruktur. Dieses Entweder-Oder ist Gift. Entweder Sicherheit oder Zusammenhalt. Entweder die Ukraine unterstützen oder in Deutschlands Zukunft investieren: Diesen Gegensatz aufzumachen ist falsch und gefährlich. Das ist Wasser auf die Mühlen der Feinde unserer Demokratie. Vor allem aber ist dieses Entweder-Oder auch vollkommen unnötig. Denn Deutschland ist ein starkes Land. Unter allen großen wirtschaftsstarken Demokratien haben wir mit weitem Abstand die geringste Verschuldung. 

Es gibt Lösungen, wie wir unser Gemeinwesen und seine Aufgaben solide finanzieren können. Es gibt Lösungen für einen Haushalt, der innere, äußere und soziale Sicherheit gleichzeitig stärkt. Eine solche Lösung habe ich vorgeschlagen. Das Grundgesetz sieht in Artikel 115 ausdrücklich vor, in einer außergewöhnlichen Notsituation ein Überschreitensbeschluss zu fassen, so wie das die Koalition Ende vergangenen Jahres übrigens genau für diesen Fall vereinbart hatte. Der russische Angriffskrieg, der nun schon im dritten Jahr tobt, sowie alle seine Folgen sind eine solche Notsituation.

Wenn eine Notsituation vorliegt, dann aber hat die Bundesregierung nicht nur das Recht zu handeln. Dann ist Handeln Pflicht. Wie geht es nun weiter? Bundesminister Lindner wird vom Bundespräsidenten entlassen. Mit Vizekanzler Robert Habeck bin ich mir einig. Deutschland braucht schnell Klarheit über den weiteren politischen Kurs. 

Der reguläre Termin für die Bundestagswahl im Herbst nächsten Jahres liegt noch in weiter Ferne. In den verbleibenden Sitzungswochen des Bundestages bis Weihnachten werden wir alle Gesetzentwürfe zur Abstimmung stellen, die keinerlei Aufschub dulden. 

Dazu zählt der Ausgleich der kalten Progression, damit alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab dem 1. Januar mehr Netto vom Brutto haben. Dazu zählt die Stabilisierung der gesetzlichen Rente. Dazu zählt die schnelle Umsetzung der Regeln des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Dazu zählen Sofortmaßnahmen für unsere Industrie, über die ich derzeit mit Unternehmen, Gewerkschaften und Industrieverbänden spreche. 

Bis zur letzten Sitzung des Bundesrates in diesem Jahr, am 20. Dezember, sollten diese Beschlüsse gefasst sein. Gleich in der ersten Sitzungswoche des Bundestages im neuen Jahr werde ich dann die Vertrauensfrage stellen, damit der Bundestag am 15. Januar darüber abstimmen kann. So können die Mitglieder des Bundestages entscheiden, ob sie den Weg für vorgezogene Neuwahlen frei machen.

Diese Wahlen könnten dann unter Einhaltung der Fristen, die das Grundgesetz vorsieht, spätestens bis Ende März stattfinden. Meine Damen und Herren, ich werde nun sehr schnell auch das Gespräch mit dem Oppositionsführer, mit Friedrich Merz suchen. Ich möchte ihm anbieten in zwei Fragen, gerne auch mehr, die entscheidend sind für unser Land, konstruktiv zusammenzuarbeiten: Bei der schnellen Stärkung unserer Wirtschaft und unserer Verteidigung. 

Denn unsere Wirtschaft kann nicht warten, bis Neuwahlen stattgefunden haben. Und wir brauchen jetzt Klarheit, wie wir unsere Sicherheit und Verteidigung in den kommenden Jahren solide finanzieren, ohne dafür den Zusammenhalt im Land aufs Spiel zu setzen. Auch mit dem Blick auf die Wahlen in Amerika ist das vielleicht dringender denn je. Es geht darum, jene Entscheidung zu treffen, die unser Land jetzt braucht. Darüber werde ich mit der verantwortlichen Opposition das Gespräch suchen. 

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werde ich weiter meine gesamte Kraft dafür aufwenden, unser Land durch diese schwierige Zeit zu führen. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit den richtigen Entscheidungen gestärkt aus dieser Krise herauskommen werden.

Eine persönliche Bemerkung möchte ich noch hinzufügen. Ich habe zu Anfang über die Notwendigkeit gesprochen, Kompromisse zu schließen. Diese Fähigkeit darf uns nicht abhandenkommen. Wer in den vergangenen Wochen in die USA geblickt hat, der hat ein Land erlebt, das tief zerrissen ist. Ein Land, wo politische Unterschiede Freundschaften und Familien zerstört haben, wo Ideologie die Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg fast unmöglich gemacht hat. Das darf uns in Deutschland nicht passieren. Gerade weil wir es auch in Zukunft mit Wahlergebnissen zu tun haben werden, die Kooperation und Kompromisse erfordern. Das ist oft mühsam, aber genau das hat Deutschland stark gemacht. Das zeichnet uns aus, und daran arbeite ich als Ihr Bundeskanzler. Schönen Dank.» (dpa)


 

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