Anonymisierte Bewerbungen haben schweren Stand in Deutschland

| Zahlen & Fakten Zahlen & Fakten

«Wenn Sie Yilmaz heißen, dann müssen Sie in Deutschland deutlich mehr Bewerbungen schreiben als mit dem Namen Schmidt - und das bei exakt gleicher Qualifikation. Studien zeigen das leider immer wieder», sagt die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, Ferda Ataman. Etwa ein Viertel der Diskriminierungserfahrungen im Arbeitsleben würden in der ersten Phase, während der Arbeitssuche und Bewerbung, gemacht.

Ein Experiment erregte 2016 Aufsehen: Eine Wissenschaftlerin verschickt rund 1500 Bewerbungen - mal mit typisch deutschen Namen, mal mit typisch türkischen Namen und verschiedenen Fotos. Mit und ohne Kopftuch. Das Ergebnis: Eine Bewerberin ohne Kopftuch und Migrationshintergrund hatte die besten Chancen auf eine Stelle.

Eine Lösung können anonymisierte Bewerbungen sein, bei denen Personaler zum Beispiel nicht das Alter oder das Geschlecht des Bewerbers kennen. Heute steht zwar pflichttreu in Stellenausschreibungen «m/w/d» (männlich/weiblich/divers), aber die anonymisierte Bewerbung hat sich in Deutschland nicht durchgesetzt. Anders sieht das im englischsprachigen Raum aus.

«Die USA und Großbritannien haben schon in den 60ern einzelne Aspekte wie das Foto in Bewerbungen rausgenommen», sagt Veronika Kneip, Professorin für Human Resource Management und Organisation an der Frankfurt University of Applied Sciences. Für die schleppende Entwicklung bei diesem Thema in Deutschland gebe es verschiedene Gründe. «Die Arbeitgeber scheuen zum einen den Aufwand, den anonymisierte Verfahren bedeuten», sagt Kneip.

Für das Verfahren, das Chancengleichheit ermöglichen soll, müssen etwa neue Formulare aufgesetzt oder Angaben geschwärzt werden. Bei Bewerberinnen und Bewerbern sowie Personalverantwortlichen kommt das laut Kneip nicht immer gut an: «Diejenigen, die auswählen sind auch von ihrer Urteilskraft überzeugt.» Viele Personaler glaubten, dass sogenannte Biases - unbewusste Vorurteile etwa durch Sozialisation und Erziehung - nicht in ihre Entscheidungen einfließen. Auf der Bewerberseite sei dagegen vieles einfach Gewohnheit. «Und diejenigen, die keine Diskriminierung erfahren haben, wollen unter Umständen mit Dingen wie einem Bewerbungsfoto punkten, über das sie sich selbst positiv inszenieren können», sagt Kneip.

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) testete das Verfahren der anonymisierten Bewerbung vor mehr als zehn Jahren zusammen mit mehreren Unternehmen und Verwaltungen. 2012 stellte die ADS im Abschlussbericht fest: «Bei Anonymisierung herrscht tendenziell Chancengleichheit für alle Bewerbendengruppen». Der Versuch habe auch gezeigt, dass Frauen im Vergleich zum herkömmlichen Verfahren bessere Chancen auf eine Einladung zu einem Gespräch hätten.

Peter Wald, Professor für Personalmanagement an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, hält den Aufwand für die größte Hürde. «Gerade bei den KMU (Kleine und Mittlere Unternehmen) ist Recruiting oft kein professionelles Geschäft. Ein aufwendigeres Verfahren lehnen sie daher ab.» Der Fachkräftemängel könnte aus seiner Sicht weitere Vorbehalte gegenüber dem Verfahren schüren. «Die Unternehmen glauben möglicherweise, dass sie wegen der Anonymisierung weniger Bewerbungen bekommen», sagt Wald.

«International sind anonymisierte Bewerbungsverfahren eigentlich der Standard, sei es teilweise oder komplett anonymisiert», sagt die Antidiskriminierungsbeauftragte Ataman. Deutschland hinke diesbezüglich hinterher. Ihrer Ansicht nach könnte das anonymisierte Verfahren für die Arbeitgeber einen «eindeutigen Wettbewerbsvorteil» schaffen. «In Zeiten des Arbeitskräftemangels senden Unternehmen damit das Signal, offen für alle Gruppen zu sein und diskriminierungsbewusst auszuschreiben.»

Viele deutsche Unternehmen setzen auf Freiwilligkeit bei der Preisgabe von Daten in Bewerbungen. «Die freiwilligen Angaben sind unter anderem das Geschlecht, Geburtsdatum und der Familienstand», sagt ein Sprecher der Deutschen Bank. Auch ein Foto sei freiwillig und häufig enthielten Bewerbungen dies nicht mehr. «Ob ein Foto mitgeschickt wird, ist den Bewerbenden ebenso überlassen», heißt es von Bosch. Gleiches gelte für die Angaben im Lebenslauf.

Der Konsumgüter-Konzern Procter & Gamble (P&G) war Teil des ADS-Pilotprojekts zu anonymisierten Bewerbungen. Nach den Erfahrungen von damals heißt es heute bei dem Unternehmen: «Einzig Angaben zum Geschlecht werden von uns erfasst, nicht zuletzt auch mit Blick auf die Gesprächssituation im Interview».

Auch die Deutsche Telekom beteiligte sich an dem Pilotprojekt. Ein Sprecher sagt: «Im Ergebnis haben wir gesehen, dass unser Bewerbermanagement die Chancengleichheit und die gewünschte Vielfalt bereits gewährleistete. Bei uns war der Anteil an Besetzungen der Zielgruppen nach anonymisierter Bewerbung auf gleichbleibend hohem Niveau.»

Der Pharma- und Pflanzenschutzkonzern Bayer kündigte an, in Deutschland ab November ein weitgehend anonymisiertes Bewerbungsverfahren einführen zu wollen. Zwar müssten Bewerber ihre persönlichen Daten angeben, dies diene aber nur dazu, um die Angaben im Lebenslauf und Zeugnisdokumenten überprüfen zu können, sagt ein Sprecher. «Die Führungskraft, die eine Stelle zur Besetzung ausgeschrieben hat, sieht von den Bewerbern nur deren Qualifikationen und Berufserfahrung.» Erst nach einer Einladung zum Interview erhalte sie die vollständigen Daten eines Bewerbers.

Der Arbeitgeberverband BDA will, dass es beim Prinzip der Freiwilligkeit bleibt. «Jedes Unternehmen muss die Entscheidung, ob es anonymisierte Bewerbungen akzeptiert oder nicht, individuell treffen können», teilt die BDA mit. In der betrieblichen Praxis gewännen solche Verfahren immer mehr an Beliebtheit. (dpa)


 

Zurück

Vielleicht auch interessant

Frauen waren stets unzufriedener mit dem eigenen Einkommen als Männer. Diese Lücke ist einer Studie zufolge zuletzt zumindest kleiner geworden. Abgefragt wurde auch die Zufriedenheit mit der eigenen Gesundheit.

Tatsächlich selbstständig oder doch abhängig beschäftigt? Eine Frage, vor der viele Freiberuflerinnen und Freiberufler stehen. Aber was ist eigentlich das Problem?

Wenn Mitarbeiter oder Führungskräfte in der Öffentlichkeit über ihren Arbeitgeber lästern oder gar Geheimnisse ausplaudern, kann sie das ihren Job kosten. Denn Verschwiegenheit ist nicht nur eine Stilfrage, sondern auch ein rechtlicher Anspruch. Ein Gastbeitrag von Albrecht von Bonin.

Taylor Swift hat ihre Fans in Deutschland begeistert. Frohlocken konnten aber auch die Gastgeber an den Auftrittsorten. Eine Mastercard-Auswertungen verdeutlicht den „Swift-Effekt”.

Eine Studie zeigt: Die Vorschläge der KI-Chatbots ChatGPT und Gemin sind meist gesünder als das, was Menschen im Durchschnitt täglich zu sich nehmen. Eine professionelle Ernährungsberatung können die KI-Chatbots jedoch nicht ersetzen.

Kinder und Jugendliche nehmen trotz eines Rückgangs ihres Zuckerkonsums im Vergleich zu früher immer noch zu viel Zucker zu sich. Das ist das Ergebnis einer Studie der Universität Bonn, die die Aufnahme von freiem Zucker im Alter von 3 bis 18 Jahren ausgewertet hat.

Das Smartphone nicht sofort griffbereit zu haben - für die meisten von uns fast unvorstellbar. Manche Arbeitgeber aber verbieten die private Handynutzung am Arbeitsplatz. Ist das erlaubt?

Ferienwohnungen bieten einigen Komfort. Doch wenn etwas zu Bruch geht, kann das die Freude schnell trüben. Welche Versicherungen wichtig sind – und worauf Urlauber besonders achten sollten.

Auch im Frühjahr ist die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland weiter gestiegen. Im zweiten Quartal dieses Jahres gingen 46,1 Millionen Menschen einem Job nach oder waren selbstständig. Neue Jobs entstanden allerdings fast ausschließlich in einem Bereich.

Bei vielen galt Alkohol in Maßen lange als gesundheitsfördernd. Doch das stimmt wohl nicht. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat ihre Position dazu jetzt verändert.