In einem dramatischen Appell hat Kanzlerin Angela Merkel die Bürger aufgefordert, angesichts sprunghaft steigender Infektionszahlen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beizutragen. «Wir müssen jetzt alles tun, damit das Virus sich nicht unkontrolliert ausbreitet. Dabei zählt jetzt jeder Tag», sagte die CDU-Politikerin in ihrer am Samstag veröffentlichten wöchentlichen Videobotschaft. «Ich bitte Sie: Verzichten Sie auf jede Reise, die nicht wirklich zwingend notwendig ist, auf jede Feier, die nicht wirklich zwingend notwendig ist. Bitte bleiben Sie, wenn immer möglich, zu Hause, an Ihrem Wohnort.»
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) warnte mit Blick auf die Nachverfolgung von Infektionsketten vor einem «Kontrollverlust» in einigen Regionen in Deutschland. «Das ist hochgefährlich», sagte der CSU-Politiker der «Passauer Neuen Presse».
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Merkel sagte in ihrem Podcast, Deutschland befinde sich in einer «sehr ernsten Phase» der Pandemie. Diese breite sich wieder rapide aus, schneller noch als zu Beginn vor mehr als einem halben Jahr. «Der vergleichsweise entspannte Sommer ist vorbei, jetzt stehen uns schwierige Monate bevor. Wie der Winter wird, wie unser Weihnachten wird, das entscheidet sich in diesen kommenden Tagen und Wochen. Das entscheiden wir alle durch unser Handeln.» Den Podcast gab es auch in türkischer und arabischer Fassung.
Die Gesundheitsämter in Deutschland haben nach Angaben des Robert Koch-Instituts vom Montagmorgen 4325 neue Corona-Infektionen binnen 24 Stunden gemeldet. Der Wert ist vergleichsweise niedrig, auch weil am Wochenende nicht alle Gesundheitsämter Daten übermitteln. Gemessen an den 2467 gemeldeten Infektionen vom Montag vergangener Woche ist der aktuelle Wert aber deutlich erhöht. Die Zahl der Neuinfektionen hatte am Samstag mit 7830 zum dritten Mal in Folge einen Höchstwert erreicht.
Damit sich das Virus nicht unkontrolliert ausbreite, müssten die Kontaktpersonen jedes infizierten Menschen benachrichtigt werden, um die Ansteckungsketten zu unterbrechen, so Merkel. «Die Gesundheitsämter leisten dabei Großartiges, aber wo die Zahl der Infizierten zu hoch wird, da kommen sie nicht mehr hinterher.»
Merkel forderte die Bürger auf, konsequent den Mindestabstand zu wahren, den Mund-Nasen-Schutz zu tragen und Hygieneregeln einzuhalten. Außerdem sage die Wissenschaft klar, die Ausbreitung des Virus hänge direkt an der Zahl der Kontakte und der Begegnungen, die jeder habe. «Wenn jeder von uns seine Begegnungen außerhalb der eigenen Familie jetzt eine zeitlang deutlich verringert, dann kann es gelingen, den Trend zu immer mehr Infektionen zu stoppen und umzukehren. Genau das ist heute mein Appell an Sie: Treffen Sie sich mit deutlich weniger Menschen, ob außerhalb oder zu Hause.»
Sie wisse, dass klinge nicht nur hart, das sei im Einzelfall auch ein schwerer Verzicht, so Merkel. «Aber wir müssen ihn nur zeitweilig leisten und wir leisten ihn letztlich für uns selbst: Für die eigene Gesundheit und die all derer, denen wir eine Erkrankung ersparen können. Dafür, dass unser Gesundheitswesen nicht überfordert wird, dass die Schulen und Kitas unserer Kinder geöffnet bleiben. Für unsere Wirtschaft und unsere Arbeitsplätze.»
Deutschland sei deswegen so vergleichsweise gut durch das erste halbe Jahr der Pandemie gekommen, weil «wir zusammengestanden» und die Regeln eingehalten hätten. «Das ist das wirksamste Mittel, das wir zurzeit gegen die Pandemie haben. Jetzt ist es nötiger denn je.»
Bund und Länder hatten am vergangenen Mittwoch zwar Gegenmaßnahmen in Corona-Hotspots verschärft. Beim umstrittenen Beherbergungsverbot für Urlauber aus Risikogebieten aber gab es keine einheitliche Linie. In mehreren Ländern haben Gerichte das Beherbergungsverbot inzwischen gestoppt. Merkel hatte sich in den Beratungen nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur unzufrieden mit den Beschlüssen gezeigt. «Die Ansagen von uns sind nicht hart genug, um das Unheil von uns abzuwenden», sagte sie nach übereinstimmenden Angaben von Teilnehmern. «Es reicht einfach nicht, was wir hier machen.»
Kritik aus der Hotellerie
Thomas Edelkamp, Vorstand der Romantik-Hotels kritisiert auf Facebook: „Die pauschale und undifferenzierte Aufforderungen zum Reiseverzicht von allen, kommt einer Aufforderung zum indirekten Shut-Down gleich! Das ist unangemessen und bei aller verständlicher Sorge auch gefährlich. Die Hotellerie und Gastronomie hat in den letzten Monaten wohl das beste Hygienekonzept aller Branchen praktiziert und sind keine Infektionsquellen. Bürger dieses Landes folgen millionenfach den AHA-Regeln und Gäste in der Hotellerie tun das nach unseren Erfahrungen sogar vorbildlich. Mit pauschalen Verzichtsaufforderungen lähmen Sie die Gesellschaft und fügen unserer Branche Schaden zu! Direkte Stornierungswellen direkt nach Ankündigungen und Aufforderungen zeugen davon und gefährden unzählige Unternehmen der Branche und Arbeitsplätze. Gerade in einer Krise erwarte ich das Kommunikation mit Bedacht, differenziert und verständlich erfolgt. Leider haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, einen anderen Weg gewählt – einen Weg, der tausende Arbeits- und Ausbildungsplätze gefährdet und ungezählte Familienbetriebe mit großer Tradition und Verantwortungsbewusstsein schon wieder in Existenznot bringt.“
Holger Hutmacher von den Moon-Hotels schreibt auf Facebook: „Damit wird per Ansage das Hotel- und Gaststättengewerbe zum Schutz anderer Branchen „geopfert“. Die Gesunderhaltung soll auch meiner Meinung nach an erster Stelle stehen, Corona ist nicht zu verharmlosen. Aber eine Branche zu opfern, um andere Wirtschaftsbereiche zu schützen, kann so nicht stehen bleiben. Hotels sind „save-places“ mit starken Hygiene Konzepten und zudem wenig Kontaktdurchmengungen. Wenn das Gastgewerbe wieder herhalten soll - dann muss hier angemessen umverteilt und entschädigt werden. Was vor einem halben Jahr ein Lockdown war - ist heute eine Kommunikationsstrategie die dem im Ergebnis gleich kommt und der Branche die Marktchancen nimmt.“
Christoph Unkell vom Hotel Rebstock in Würzburg merkt auf Facebook an: „Wenn man mal von Ischgl und dem Ballermann absieht, gibt es für mich keinen Hinweis darauf, dass man sich auf Reisen ansteckt. Im Gegenteil, die Hauptinfektionsquellen liegen im Freundes- und Familienkreis, bei Familienfeiern, Partys, vielleicht noch auf der Arbeit. So gesehen ist man auf Reisen sogar sicherer, denn Hotels und Restaurants haben alle gute Hygienekonzepte und unterwegs fällt es leichter sich an die AHA-Regeln zu halten.“
Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus forderte eine bundeseinheitliche Linie. «Alles andere ruft momentan nicht nur große Irritation in der Bevölkerung hervor - es behindert ein konsequentes, gebündeltes Vorgehen gegen Corona», schrieb der CDU-Politiker in einem der Deutschen Presse-Agentur vorliegenden Brief an die Abgeordneten von CDU und CSU.
Söder sagte: «Wenn keine Nachverfolgung der Infektionen mehr möglich ist, so wie in den Niederlanden, Frankreich, Spanien und Tschechien, muss man die Kontakte generell begrenzen..» Es müssten grundlegende Entscheidungen getroffen werden. «Wenn wir das nicht tun und nur halbherzig vorgehen, steuern wir unwillkürlich auf einen zweiten Lockdown zu. Wer keinen Lockdown will, der muss jetzt entschlossen handeln», sagte der CSU-Chef.
Die Politik will einen erneuten Lockdown wie im Frühjahr eigentlich unbedingt verhindern - also ein Herunterfahren des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens wie im Frühjahr. Die Wirtschaftsleistung war deswegen im zweiten Quartal eingebrochen.
Neben dem Beherbergungsverbot stoßen auch andere Maßnahmen der Politik derzeit vor Gericht auf Widerstand. Eine Woche nach ihrer Einführung steht die Sperrstunde für Berliner Bars und Kneipen auf wackligen Füßen. Sie halte einer rechtlichen Überprüfung nicht stand, erklärte das zuständige Verwaltungsgericht am Freitag.
Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) kündigte an, noch mehr Helfer zur Unterstützung der Kommunen bei der Kontaktnachverfolgung mobilisieren zu wollen. Neben dem Bundeswehrkontingent von bis zu
15 000 Soldaten schaue man auch, «ob wir weitere Personalreserven in der Bundesregierung und nachgeordneten Behörden mobilisieren können», sagte der CDU-Politiker der «Rheinischen Post» (Samstag). Er habe zudem die Hoffnung, zur Kontaktnachverfolgung auch eine größere Zahl von Studierenden zu gewinnen.