Aachener Dom bis Zeche Zollverein - und zuletzt das Residenzensemble Schwerin und die Siedlungen der Herrnhuter Brüdergemeine (ja, ohne «d»): In fast 50 Jahren hat Deutschland mehr als 50 Welterbestätten angesammelt.
Darunter sind auch der Dom zu Speyer, Schloss Sanssouci, der Kölner Dom, berühmte Bauhaus-Gebäude sowie die Wartburg bei Eisenach. Doch erst in diesem Jahr kommt Neuschwanstein hinzu, das am Alpenrand gelegene Märchenschloss des Bayern-Königs Ludwig II. (1845-1886).
«Schloss Neuschwanstein ist in der Tat ein Sonderfall»
Das Baudenkmal gehört zu den bekanntesten Gebäuden Deutschlands, wenn nicht gar der Welt - und erreicht tatsächlich jetzt erst die globale Welterbe-Liste der Unesco. Wie objektiv kann diese Kulturaufstellung überhaupt sein?
«Schloss Neuschwanstein ist in der Tat ein Sonderfall. Es ist sehr bekannt und sehr beliebt», sagt der Ethnologe Christoph Brumann. Inzwischen sei es aber so, dass eher Kulturstätten aus hinteren Reihen zum Zuge kommen. «Dass Neuschwanstein so spät dran ist, hat wohl auch damit zu tun, dass bis vor nicht allzu langer Zeit historisierende Bauwerke aus dem 19. Jahrhundert als eher zweitklassig galten», sagt der Kulturerbe-Experte.
«Die Mittelalter-Fantasie eines Königs wurde eben lange Zeit nicht gleichrangig mit tatsächlich mittelalterlichen Bauwerken angesehen», sagt Brumann vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle.
Derzeit gibt es 1.223 Welterbestätten (952 davon Kulturerbe, 231 Naturerbe). Weltweit liegt die Bundesrepublik mit 54 Stätten unter den Ländern auf einem hervorragenden dritten Platz (hinter Italien und China) - noch vor Frankreich, Spanien, Indien und Mexiko. Bei den reinen Kulturerbe-Stätten landet Deutschland (51) sogar auf Platz zwei hinter Italien (54).
Anfangs wurden Stätten ernannt, die es kaum nötig hatten
Zu den ersten Welterbestätten Ende der 70er Jahre gehörten neben den Galapagos-Inseln (Ecuador) unter anderem die Altstadt von Krakau (Polen), die Pyramiden von Gizeh (Ägypten) sowie Schloss Versailles (Frankreich).
Anfangs sei es meistens so gewesen, dass ohnehin weltbekannte Stätten ernannt wurden, die es kaum nötig hatten. Über sie wurde dann aber der neue Welterbetitel bekannt. Heutzutage sei es eher so, dass der Welterbetitel benutzt werde, um unbekannteren Orten Prestige zu verleihen, meint Brumann, der 2021 das englischsprachige Buch «The Best We Share: Nation, Culture and World-Making in the Unesco World Heritage Arena» veröffentlicht hat.
Schon vor 45 Jahren erhielt zum Beispiel die Mailänder Kirche Santa Maria delle Grazie mit Leonardo da Vincis Wandgemälde «Das Abendmahl» den Titel, ebenso Maltas Hauptstadt Valletta. Vor 44 Jahren wurde die Savanne Serengeti (Tansania/Kenia) Weltnaturerbe. Vor 40 Jahren wurden unter anderem die Felsen-Ruinenstätte Petra (Jordanien) und die Medina von Marrakesch (Marokko) in die Liste aufgenommen, vor 38 Jahren Venedig und seine Lagune.
Manche sehen die Welterbe-Liste auch als Gefahr
Der italienische Journalist Marco D'Eramo warnte bereits vor zehn Jahren vor dem sogenannten Unesco-zid (wie in Suizid oder Genozid). Die Aufnahme in die Welterbe-Liste könne eine Art Todeskuss sein. Allzu oft wirke die Welterbe-Liste so, also wolle sie «die Krankheit heilen, indem sie den Patienten tötet». Soll heißen: Wenn die Liste eine Stätte als schützenswert anerkennt, könne dies zu einem unhaltbaren Ausmaß an Tourismus führen.
«Als Ethnologen sehen wir Kulturranglisten grundsätzlich skeptisch», sagt Brumann. «Unsere sähen vermutlich anders aus als es die konventionellen westlichen gemeinhin tun.» Ihn habe daher schon vor Jahren interessiert, sagt der Forscher, wie das entscheidende Gremium das auswähle, was dann als «außergewöhnlicher universeller Wert» bezeichnet werde.
Im Welterbekomitee, das die Liste verwaltet, sitzen 21 gewählte Mitglieder. Bestimmt werden sie von den 196 Vertragsstaaten der Welterbekonvention (Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt, 1972).
Kritikerin: Unesco-Liste kaum repräsentativ
Natürlich ist die heutige Unesco-Liste «nur begrenzt objektiv», wie Brumann es formuliert. «Die Welterbe-Liste hängt stark davon ab, wie die Staaten in der Lage sind, Stätten zu nominieren.»
Die «New York Times» zitierte vergangenes Jahr Susan Macdonald vom Getty Conservation Institute (Los Angeles), die deutlicher wurde: Rund die Hälfte der Kulturerbestätten befinde sich in Europa und Nordamerika und sei damit kaum repräsentativ. In ihr stecke vielmehr sehr viel «Lobbyarbeit».
Nominierungen seien aufwendig - und die Haupthürde heutzutage, betont Brumann. «Hunderte, gar Tausende Seiten Unterlagen müssen eingereicht werden, die den Wert begründen, die erklären, wie die Stätten aussehen, wie sie im Vergleich dastehen, wie sie geschützt und wie sie gemanagt werden.»
Seit etwa 2010 werden eventuelle Einsprüche gegen Bewerber, etwa von der Beraterorganisation Icomos, meistens übergangen, sagt Brumann. «Wenn Sie heute nominiert sind, ist es praktisch sicher, auch in die Liste aufgenommen zu werden.» Die Staaten seien untereinander geneigt, sich gegenseitig Wünsche zu erfüllen. «So lässt sich auch gut erklären, dass Deutschland so gut dasteht», sagt Brumann. «Hierzulande ist man einfach beim Nominieren sehr fleißig.» (dpa)